Ich habe in Rolf Bollmann, einem 79 jährigen trockenen Alkoholiker einen Mentor gefunden, der mir half, die Krankheit Alkoholismus, sowie die Co - Abhängigkeit wirklich zu verstehen. Nachdem ich über ein YouTube Video auf ihn aufmerksam wurde, verbrachte ich eine Woche in seiner Finca auf Mallorca, wo er bis Ende 2018 Seminare für Alkoholiker anbot. Nachdem ich nicht locker ließ, wurde ich die erste co - abhängige Kursteilnehmerin, und lernte in dieser einen Woche in Spanien mehr über die Krankheit Alkoholismus, als in all den Jahren zuvor. Das war der Start zu meiner emotionalen Freiheit, die es mir ermöglichte, mich aus der Co - Abhängigkeit zu lösen.
Meine Woche auf Mallorca neigte sich nun langsam dem Ende zu. Am letzten Nachmittag stand Wandern auf dem Programm, und ich freute mich darauf. Aber als ich meine Haare zusammen gebunden, Sonnenschutz aufgetragen, meine Schuhe geschnürt hatte, und es an der Zeit war zu starten, verspürte ich auf einmal den großen Wunsch, doch lieber alleine zu bleiben.
Ich konnte es nicht wirklich benennen was der Auslöser war, aber ich beschloß auf mein Bauchgefühl zu hören.
Ich fragte R., ob es für sie OK wäre, wenn ich doch nicht mitkäme. Sie lächelte ihr warmes Lächeln und antwortete, daß das natürlich völlig in Ordnung sei.
Als alle ausgeflogen waren, versuchte ich herauszufinden, wonach mir eigentlich genau war. Nach kurzem Überlegen beschloß ich, es mir am Pool gemütlich zu machen und etwas zu lesen. Ich ging auf mein Zimmer, packte Handy, Handtuch und ein Buch ein, schlüpfte in meinen Bikini und warf mir eine Tunika über. Ich holte mir eine Flasche Wasser und etwas Obst aus der Speisekammer und suchte mir einen hübschen Platz unter den großen Palmen. Während ich in eine saftige Nektarine biß, breitete ich mein Tuch auf der Liege aus, legte mich hin, streckte die Beine aus und schlug meine Lektüre auf. Nachdem ich ein paar Seiten gelesen hatte, registrierte ich, daß ich mich an kein einziges Wort erinnern konnte. Es war mir absolut nicht möglich, mich zu konzentrieren. Schließlich legte ich das Buch zur Seite und versuchte mich einfach ein bißchen zu entspannen. Aber auch das funktionierte nicht wirklich. Ich war irgendwie ruhelos und stand wieder auf.
Ich begann erneut meine eigene Stille zu fürchten und ärgerte mich, daß ich nicht im Stande war heraus zu finden, was ich eigentlich wollte.
Als ich so da stand, wie bestellt und nicht abgeholt, und mit mir haderte, ob ich nicht doch lieber mit den anderen hätte wandern gehen sollen, schweifte mein Blick zum Meer, und ich spürte, wie mich dieser Anblick beruhigte. Ich nahm mein Handy und die Kopfhörer, und setzte mich auf die niedrige Mauer, die den Pool Bereich vom angrenzenden Garten trennt. Ich wählte ein Lied meiner Favoritenliste, drückte auf „play“, und ließ die Beine baumeln. Ich blickte über das riesige Grundstück bis zum Meer, und spürte wie ich mich zunehmend entspannte. Plötzlich kam ein angenehmer warmer Wind auf, der vom süßen Duft der Feigenbäume getränkt war. Ich habe so etwas noch nie gerochen. Der Duft um mich herum war so intensiv, als hätte jemand ein Dutzend edelster Kerzen angezündet. Es war ein unendlich schöner Moment. Ich drückte wieder und wieder auf „repeat", der Wind wehte unermüdlich, ich sah wie sich in der Ferne die Wellen brachen, und auf einmal erfüllte mich ein so überbordendes Glücksgefühl, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich schäumte über voller Liebe und Vertrauen, daß alles gut werden würde, obwohl sich an den Umständen zu diesem Zeitpunkt rein gar nichts geändert hatte.
Aber jetzt spürte ich die enorme Kraft, das riesengroße Potential, das in mir steckt, und ich wußte, daß das, wonach ich suchte tatsächlich existiert, und daß uns die Liebe und die Fülle zu jeder Zeit umgeben.
Ich begriff plötzlich, was Rolf bei unserem Gespräch auf der Terrasse gemeint hatte. Ich verstand, daß wenn ich in der Lage war, dieses starke Glücksgefühl hier alleine auf der Mauer zu spüren, es nur daran liegen konnte, daß es bereits in mir war. Und das schon die ganze Zeit über, in der ich im Außen vergeblich danach gesucht hatte. Ich dachte an einen Satz aus dem Buch
„A new pair of glasses“ by Chuck „C“. Er stammt von Pater Ed Bowling und lautet:
„Manchmal kommt mir der Gedanke, der Himmel sei einfach nur eine neue Brille.“
Der Tag meiner Abreise war gekommen. Mein Flug ging so früh, daß ich nicht mehr mit den anderen frühstücken konnte. A. unser „Mädchen für alles“, war bestellt, um mich pünktlich abzuholen und zum Flughafen zu fahren, während die anderen noch schliefen. Ich machte mein Bett, legte die benutzten Handtücher zusammen und kippte das Fenster. Zu guter Letzt packte ich meinen Kulturbeutel in den Koffer und beschloß, die Lektüren, die ich für T. und mich gekauft, und die Rolf mit einer Widmung versehen hatte, lieber im Handgepäck zu verstauen. Nur für alle Fälle, falls mein Koffer wieder abhanden kommen sollte. Als ich sie gerade in meine Tasche stecken wollte, schlug ich das oberste Buch auf und las darin:
„Liebe Julia, es war sehr schön Dich kennenzulernen. Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder, auf dem beschwerlichen Weg zum glücklichen Ziel. Herzlichst, Dein Rolf.“
Ich unterdrückte die aufsteigenden Tränen, packte die drei Bücher schließlich lächelnd ein, löschte das Licht, und verließ so leise wie möglich mein Zimmer in Richtung Eingangsbereich. Ich mußte daran denken, was mein Seminarkollege zu mir gesagt hatte, als wir uns bereits gestern Abend verabschiedet hatten. Er meinte, daß er es anfangs richtig "Scheiße" fand, daß ich hier als Co - Abhängige dabei war. Er lächelte entschuldigend und schob hinterher, daß es ihm jetzt umso mehr leid täte, daß ich schon nach einer Woche abreise. Er sagte, er würde unsere Gespräche und meine Beiträge sehr vermissen. Sichtlich bewegt fügte er hinzu, daß ihm durch die gemeinsame Therapie mit mir erst richtig bewußt geworden ist, was seine Frau eigentlich mitmacht. Bevor ich noch anfing zu heulen, wünschten wir uns gegenseitig alles Gute und nahmen uns vor, uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Ich wurde von R., die aus der Küche auf mich zukam, aus meinen Gedanken gerissen. Ich fragte verwundert, was sie um diese Zeit hier mache und sie antwortete: „Na ich kann Dich doch nicht abreisen lassen, ohne mich von Dir zu verabschieden.“ Sie fragte, ob sie mich noch einmal in den Arm nehmen dürfe. Ich war nun so aufgewühlt und gerührt, daß ich nur nickte und ihre herzliche Umarmung erwiderte. Sie sagte, daß ich eine große Bereicherung für die Gruppe gewesen sei und definitiv fehlen werde. Sie lächelte und fügte hinzu, daß ich so herrlich emotional und leidenschaftlich, dabei gleichzeitig sehr reflektiert sei, was eine gute Dynamik geschaffen habe, und sie hoffe, daß ich das immer beibehalten werde. Ich wurde in diesem Moment in eine der schlimmsten Phasen von T.´s Krankheit zurück katapultiert.
Ich war absolut am Ende meiner Kräfte, und man sagte mir, ich müsse eben endlich lernen, meine Gefühle besser zu kontrollieren. Es hieß herablassend und arrogant:
„Du bist einfach zu emotional.“
Jetzt war ich so unendlich zufrieden, daß ich es trotz meiner Verlustängste geschafft hatte, mich mit allen Konsequenzen endgültig von gewissen Menschen zu trennen, und ich somit wieder in der Lage war, das große Potenzial meiner Persönlichkeit erkennen und entfalten zu können, und genau dafür dankbar zu sein, wer und wie ich war.
Bereits auf dem Heimweg fühlte ich, wie viel sich in mir verändert hatte. Im Gegensatz zur Anreise, war ich nach nur einer Woche Therapie extrem ausgeglichen, und fühlte mich so wohl in meiner Haut wie lange nicht mehr. Ich war zufrieden, und verspürte zum ersten Mal an einem Flughafen nicht den Wunsch mir etwas im Duty Free Shop zu kaufen. Ich besorgte lediglich Mitbringsel für meine Kinder, suchte mir einen Sitzplatz mit Blick auf die Rollbahn und hörte Musik, bis es Zeit für das Boarding war. Ich war komplett bei mir, und die Menschen um mich herum hatten keinerlei Einfluß auf meine Gefühle oder meine Gedanken. Natürlich konnte ich es kaum abwarten in ein paar Stunden wieder zu Hause zu sein, und meine Jungs in den Arm nehmen zu können. Mein Vater war zu uns gekommen um auf sie aufzupassen. Ich freute mich auf mein Bett, unser Badezimmer, meine Kaffeemaschine, und darauf mit meinen Freundinnen essen zu gehen und ihnen alles zu erzählen, was ich erlebt hatte. Aber das alleine war es nicht, was den Unterschied zur Anreise ausmachte. Ich spürte jetzt, noch viel klarer und deutlicher als auf der Finca, daß der Prozeß in mir nicht nur in Gang gesetzt, sondern schon ziemlich weit fortgeschritten war.
Ich war so dankbar, diese Erfahrung gemacht zu haben, und fühlte mich nun bereit, auch alle anderen, noch offenen Baustellen, die in Deutschland auf mich warteten, in Ordnung zu bringen. Ich erkannte, daß der erstaunlich gute Zustand, in dem ich mich jetzt befand, genau so wie die Tiefpunkte zuvor, das Ergebnis einer Entscheidung war, die ich getroffen hatte, und war stolz darauf.
Ich war stolz auf mich! Vor zwei Wochen fasste ich den Entschluss, trotz aller Bedenken und Zweifel diese Therapie zu machen. Hätte ich im letzten Moment gekniffen, und stattdessen doch lieber in einem Wellness - Hotel eingecheckt, ginge es mir jetzt bei der Heimkehr, aus Angst vor alldem, was mich nun erwarten würde, wahrscheinlich noch schlechter als zuvor. Ich könnte in diesem Moment genau so gut hier am Flughafen sitzen, und jammernd meine Heimreise antreten, während ich mir erzählte, daß T. als einziger schuld an dem ganzen Schlamassel war.
Ich hatte mich aber dafür entscheiden, mein Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen, Verantwortung zu übernehmen, und war bereit, die Ärmel hochzukrempeln. Ich wollte mein Glück nicht länger von seiner Nüchternheit abhängig machen.
Es war unklar wie es mit T., und ob es mit uns weitergehen würde, im Geschäft warteten die absolut stressigsten und wichtigsten Monate des ganzen Jahres auf mich, meine Scheidung stand bevor, und ich hatte absolut keine Ahnung, was die Endlösung sein sollte, und ob T. seine Arbeit in absehbarer Zeit wieder aufnehmen konnte. Aber ich konzentrierte mich darauf zu vertrauen, anstatt in den Panikmodus zu verfallen, positiv zu denken und ganz einfach mein Bestes zu geben.
T. wohnte mittlerweile bei seiner Schwester auf dem Hof. Seine Familie hatte aufgrund meiner Begeisterung über Rolf Bollmann für ihn die nächstmögliche Therapie bei ihm gebucht, und sie auch finanziert.
Die Übergangsphase bis zu deren Beginn, verbrachte T. bereits seit meiner Abreise zur Finca Esperanza, in einer Klinik, in der ich ihn in der Woche meiner Rückkehr besuchte.
Beziehungsweise verabredeten wir uns in einem Café in der Nähe. Es fühlte sich wie immer seltsam, fremd und vertraut zugleich an, wenn wir uns nach solchen, für uns ungewöhnlich langen Trennungen zum ersten Mal wieder sahen. Hinzu kam dieses Mal, daß ich mich durch meinen Aufenthalt auf Mallorca verändert hatte. Als ich ihn sah, fiel mir auf, wie unglaublich blass er war.
Er wirkte irgendwie gestärkt und geschwächt zugleich, und man sah ihm seinen harten Kampf in das Gesicht geschrieben. Wie immer sagten wir nichts, sondern umarmten uns lange, bevor das erste Wort gesprochen wurde. Wir setzten uns, bestellten Eier mit Speck, Kaffee und Saft und ich reichte ihm voller Vorfreude über seine Reaktion, die Bücher, die ich ihm aus Mallorca mitgebracht hatte. Er lächelte, bedankte sich, und legte sie zur Seite, doch ich drängte ihn, die erste Seite aufzuschlagen. Er tat worum ich ihn gebeten hatte und las, was dort geschrieben stand:
„Lieber T., Du findest die Antwort in diesem Buch. Dein Rolf.“
Er presste die Lippen aufeinander, holte tief Luft und umarmte mich mit festem Griff. In diesem Moment kam der Kellner mit unserer Bestellung an den Tisch. Wir machten Platz für die Teller, und begannen zu essen. Nachdem T. und ich ein bißchen erzählt hatten, fragte ich wie es überhaupt möglich sei, daß wir uns außerhalb der Klinik treffen konnten, und scherzte, daß er sich hoffentlich nicht mit einem Bettlaken aus dem Fenster abgeseilt habe.
T. schüttelten den Kopf und erwiderte, daß er das Gebäude innerhalb bestimmter Zeiten offiziell verlassen durfte. Für mich fühlte sich das alles andere als richtig an, aber ich nickte nur, ohne diese, in meinen Augen mehr als fragwürdige Regelung weiter zu kommentieren. Als wir uns verabschiedeten, war ich recht zuversichtlich, daß T. nun endlich eine reelle Chance hatte, seine Nüchternheit zu erlangen. Man kümmerte sich in dieser Klinik um ihn, bis er endlich zu Rolf fliegen würde, und bis dahin hatte er schon einmal die zwei wichtigsten Lektüren zur Hand.
Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wußte war, daß es zwischen Klinikaufenthalt und Mallorca leider ein zweiwöchiges Zeitfenster gab.
Als ich erfuhr, daß es weder seine aktuell behandelnden Ärzte, noch sein Langzeittherapeut für nötig hielten, diese Lücke zu schließen, war ich außer mir. Ich war mir ganz sicher, daß das zu riskant war, und höchstwahrscheinlich nicht gut gehen würde, zumal er scheinbar auch noch vorhatte, während dieser vierzehn Tage Aufträge anzunehmen. Aber ich konnte, wie so oft zuvor, rein gar nichts ausrichten. T. verließ schließlich die Klinik und nahm seine Arbeit wieder auf, als sei nichts geschehen, gerade so, als käme er aus dem Urlaub zurück. Und dann kam der Tag, des von mir befürchteten Rückfalls, der die Therapie bei Rolf im Handumdrehen zu Nichte machen konnte. T. war gerade dabei eine Bestellung fertig zu stellen, und ich sah schon von Weitem, daß er betrunken war. Da war wieder das Gefühl angeschossen zu werden, und mein Magen schnürte sich wie üblich zusammen. Doch anstatt zu ihm zu gehen, ihm zu helfen, oder auf ihn einzureden, blieb ich dieses Mal wie angewurzelt stehen, griff zum Telefon und wählte Rolf´s Nummer. Er hob nach kurzem Klingeln ab, und nachdem er mich zunächst freudig begrüßt hatte, bemerkte er sehr schnell an meiner Stimme, daß etwas nicht stimmte. Er fragte was passiert sei, und ich schilderte ihm die Situation, während ich T. beobachtete, wie er hin und her torkelte. Ich bin noch heute überwältigt, wenn ich mich an Rolf´s unfassbar mitfühlende Reaktion erinnere. Er sagte:
„ Julia, Du glaubst gar nicht, wie unendlich leid mir das tut.“ Als er diesen Satz ausgebrochen hatte, stiegen mir die Tränen, die ich bis jetzt unterdrücken konnte, in die Augen. „Aber bleib jetzt bitte stark, und lass ihn gehen. Du kannst nichts machen! Du hast keinen Einfluß! Bleib bei Dir, und lass los!“
Ich wußte, daß er Recht hatte, und war nun in der Lage, entgegen meinem so lange einstudierten co - abhängigen Verhalten zu handeln. Früher hatte ich immer sofort alles in Panik stehen und liegen gelassen, wenn T. getrunken hatte. Ich fühlte mich dafür verantwortlich, falls ihm etwas zustossen würde, und rannte jedes Mal wieder los, um ihn zu retten, ihn vor sich selber zu beschützen. Wie ein Lifeguard am Strand, der die Badenden niemals aus den Augen läßt, und in der Sekunde, da jemand in Gefahr ist, los sprintet, als ginge es um sein eigenes Leben. Doch heute überließ ich T. zum ersten Mal sich selber, legte die Verantwortung für ihn nieder, und fuhr nach Hause.
Byebye Co - Abhängigkeit!
Alles Liebe,
Julia
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