Sie sagte: „Sieht so aus, als hätte ich den Kampf gegen den Wodka verloren.“ Die Tränen liefen in einem gleichmäßigen Strom über ihre schmalen, blassen Wangen, während sie keine Miene verzog und ihr Blick sich irgendwo am anderen Ende des Raumes verlor. Ihre Hände lagen, das zerknäulte Taschentuch umklammernd auf ihrem Schoß. „Dabei habe ich doch jahrelang alles versucht, aber offensichtlich war es nicht genug… war ich ihm nicht genug…“ Sie schluchzte und schaffte es ihr Weinen direkt wieder im Keim zu ersticken…
Stille.
Nach einer Pause, in der der rote Sekundenzeiger der Wanduhr laut tickend seine Runden drehte, unterbrach ich das Schweigen.
„Wie willst du denn einen Kampf verlieren, den du gar nicht gewinnen kannst?“
Nun richtete sich ihr Blick auf, und sie sah mir in die Augen. Irritiert. Skeptisch. Fragend.
„Wie meinst du das? Ich habe alles versucht.“ „Das weiß ich, aber der einzige Mensch, der den Kampf gegen den Alkohol aufnehmen, gewinnen und auch verlieren kann, ist dein alkoholabhängiger Mann. „Aber wäre ich es ihm wert, würde er aufhören… ich habe doch gesagt, dass ich alles für ihn tue und ihn nicht im Stich lasse… was soll ich denn noch machen?“ Sie ballte ihre Hände so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ich konnte ihre Verzweiflung spüren, sehen und im wahrsten Sinne des Wortes mit - fühlen, da ich mich vor ein paar Jahren selber in dieser Ohnmacht verloren hatte. Verzweifelt, ratlos, traurig, ausgebrannt. Der Selbstwert: demontiert. Wie ich mich schließlich aus dieser Sackgasse befreit habe? Ich begann umzudenken und schlug eine andere Richtung ein.
„Es ist wichtig, dass du deinen Fokus änderst und, um es mit Albert Einsteins Worten zu sagen erkennst, „dass man Probleme nicht auf dieselbe Weise lösen kann, wie sie entstanden sind“.
Anstatt co-abhängige Denk- und Verhaltensweisen zu hinterfragen, werden sie leider meist immer weiter ausgebaut und perfektioniert, auch wenn „eigentlich“ offensichtlich ist, dass sich dadurch nichts zum Besseren, aber vieles zum Schlechteren entwickelt hat. Warum sich so unendlich viele Angehörige von Alkoholkranken in diesem Teufelskreis verlieren? Weil sie schließlich das tun, was sie für zielführend halten, sie vielleicht keinen Ansprechpartner haben, sie nicht selten ein Verhaltens-Muster mitbringen, das eine große Bereitschaft Schulgefühle an- und Verantwortung zu übernehmen beinhaltet, es unglaublich schwer ist Hilfe zu bekommen, die auch eine Hilfe ist, oder weil es schlicht und ergreifend an alternativen Ansätzen mangelt. Dass die Thematik an sich sehr schambehaftet ist, macht die Sache natürlich keineswegs leichter.
Wenn man sich also offensichtlich, aber scheinbar hoffnungslos in diesem diffusen Gefühlschaos verstrickt hat, hilft es, zunächst einmal Fakten zu schaffen.
Versuche nun ganz gezielt vom Gefühl in den Verstand zu wechseln.
Wären die Strategien, an denen du festhältst tatsächlich zielführend, hätten sie etwas zum Positiven verändern müssen. Richtig? Haben sie das nicht, frage dich bitte, ob es tatsächlich Sinn macht, weiterhin an ihnen festzuhalten? Du warst davon überzeugt, du könntest deinen Partner retten, für ihn die Verantwortung für SEINE Emotionen, SEINE Handlungen und SEINE Sucht tragen? Du kannst es nicht und „eigentlich“ zeigt die Entwicklung eurer Situation klar und deutlich, dass du es nicht kannst und es samt der vertrauten Strategien bergab geht, während der Konsum samt all seiner fatalen Auswirkungen steigt. Immer schneller.
Doch was hieße es für einen selber, wenn man dem Alkoholkranken die Verantwortung für seine Sucht mit allen Konsequenzen zurückgibt?
Es würde bedeuten eine Kontrolle loszulassen, die in Wahrheit zwar nichts als eine Illusion ist, die einem aber trotzdem ein täuschend echtes, wie tückisches Gefühl von Sicherheit vorgaukeln kann. Solange man an seinen Schuldgefühlen und in Konsequenz auch an der Verantwortung für den anderen festhält, heißt dies ja im Umkehrschluss, dass man Einfluss auf die Sucht nehmen kann.
Dieser Gedanke ist verlockend, denn er bringt eine vermeintliche Stabilität in ein Leben, das von Unsicherheit, Unberechenbarkeit, Ohnmacht und Enttäuschung geprägt ist.
Bei dem Gedanken diese Verantwortung zurückzugeben und den Fokus auf sich und die eigenen Baustellen zu richten, steigt in den betroffenen Angehörigen häufig direkt ein Gefühl von Panik auf. Man verläßt die vertraute Basis der ersehnten Kontrolle, die nicht nur das Trinken stoppen, sondern auch Bindung herstellen soll, und stürzt gefühlt in den freien Fall des so gefürchteten Kontrollverlustes, der die meist viel tiefer sitzende Angst vor dem Bindungsverlust im Schlepptau hat und sie zusätzlich anfeuert. Um diesem beängstigendem und bedrohlichem Gefühl wieder schnell zu entkommen, stürzt man sich zurück in die alten Muster, in denen man wieder vertrauten Boden unter den Füßen fühlt und der toxische Kreislauf ist perfekt wie zerstörerisch…
… denn solange du versuchst die Sucht eines anderen Menschen zu kontrollieren, wird diese Sucht DICH kontrollieren, worüber sich das Suchtsystem bestens stabilisieren kann, ganz im Gegensatz zu dir.
Was meist mit diesem verzweifelten Versuch Herr der Lage zu werden einhergeht, ist die absolut fatale Dynamik, daß das (Trink-) Verhalten des Partners zum Selbstwertspiegel des Co-Abhängigen wird.
„Ich habe doch jahrelang alles versucht, aber offensichtlich war es nicht genug…ich dachte er liebt mich… aber wenn ich mich einfach noch mehr anstrenge und meinem Partner noch eindrucksvoller (aufopfernder) zeige, was er an mir hat, wird er vielleicht doch noch aufhören zu trinken.“ Bis es soweit ist, versucht man als co-abhängiger Partner in der Regel alles, damit die liebenswerte, nicht selten extrem glorifizierte Seite, für die man all das Drama in Kauf nimmt und immer gnadenloser über sich und die eigenen Standards hinweggeht, wieder zum Vorschein zu bringen, damit diese den emotionalem Schmerz, den die betrunkene Version angerichtet hat, wieder "verarztet". Somit wird der Mensch, der einen emotional verletzt gleichzeitig zu der (einzigen) Person, die einen auch wieder aufrichten kann. Der Alkoholkranke wird nicht nur zum Herrscher über die "Wahrheit", Nähe und Distanz, sondern auch zum Richter über deinen Selbstwert. Es entsteht eine emotionale Abhängigkeit, die in ihrer Dynamik nichts als Druck, Ohnmacht, Verzweiflung, Selbstzweifel und Erschöpfung erzeugt und die den perfekten Nährboden, sowohl für die Alkohol-, als auch die Co-Abhängigkeit bietet. Du kämpfst als Angehöriger einen Kampf, den du mit co-abhängigen Strategien, Denk- und Verhaltensweisen nicht gewinnen kannst.
Es kann dein Wunsch, aber nur das Ziel des Alkoholkranken selber sein, dass er die Verantwortung für seine Sucht übernimmt.
> diese Verantwortung kann ihm niemand abnehmen > ob er diese Verantwortung übernimmt oder nicht, sagt absolut nichts über deinen Wert aus > solange du an der Illusion der Kontrolle und an deinen Schuldgefühlen festhält, unterstützt du die Dynamik des Suchtsystems > anstatt darum zu kämpfen, dass dein Partner deinen "Wert" erkennt, frage dich wieder einmal, was du DIR wert bist (oder sein solltest)?
„Aber das Loslassen ist so verdammt schwer…“ Sie holte tief Luft und fing bitterlich an zu weinen.
„Ich weiß. Es ist verdammt schwer... aber manchmal ist das, was zu tun ist, alternativlos."
Ich erinnerte mich in diesem Moment an die Zeit, als ich auch versuchte meinen Halt im Festhalten zu finden, obwohl ich ihn in Wahrheit nur im LOS-lassen finden konnte.
Und auf ein Mal sah ich mich damals selber ganz klar: ich war wie eine Ertrinkende, die sich verzweifelt am Mast des sinkenden Schiffes festklammerte… und plötzlich traute ich mich loszulassen, weil ich erkannte, dass es keine andere Option gab. Mir wurde klar, dass wir beide nur am Ufer ankommen konnten, wenn wir begannen zu schwimmen, um dem toxischen Strudel seiner Sucht zu entkommen. Ich erkannte, dass mich meine Angst vor dem alleine Sein in Schach und davon abgehalten hatte, für mich einzustehen. Ich erkannte, dass es gesünder war im Zweifel tatsächlich alleine zu sein, als eine Beziehung zu führen, in der ich zur unglücklichsten Version von mir geworden war und die keinen Raum für meine Bedürfnisse, Wachstum und Vertrauen ließ. Ich erkannte, dass meine emotionale Freiheit zu erlangen die Basis für eine gesund Beziehung auf Augenhöhe war, und dass der Preis, den ich bisher bereit war zu zahlen, viel zu hoch gewesen war. Mir dämmerte, dass all das, wonach ich mich so sehr sehnte und wofür ich so viel eingesteckt, faule Kompromisse gemacht, mich selber sabotiert und auf verlorenem Posten gekämpft hatte, ganz genau dort auf mich wartete, wo ich den größten Widerstand spürte: auf der anderen Seite der Angst.
"Sometimes all we are searching for, is on the other side of fear."
Byebye Co-Abhängigkeit!
Alles Liebe,
Julia
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