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Julia Maria Kessler

Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen... M. Montessori


Bei all den Dramen, die die Beziehung zu einem nicht trockenen Alkoholiker so mit sich bringt, kann ich mich nicht mehr an die genauen Umstände dieses einen speziellen Vorfalls erinnern. Vielleicht habe ich so manches auch verdrängt. Aber es spielt letztendlich auch keine Rolle, denn ich möchte etwas ganz anderes erzählen.


Ich fühlte mich wieder einmal wie angeschossen, verzweifelt, leer und unfassbar traurig.


Ich saß im Schneidersitz in eine dicke Strickjacke gewickelt auf dem Sofa, und starrte regungslos, fast apathisch in den Garten, als mir plötzlich die Tränen, scheinbar unkontrolliert, und in Strömen über das Gesicht liefen.


Je mehr ich versuchte das Weinen zu unterdrücken, umso schlimmer wurde es. Ich verlor die Kontrolle, und begann auch noch unüberhörbar zu schluchzen. Normalerweise beherrschte ich meine Rolle perfekt, konnte wenn es nötig war, eine oskarreife Show hinlegen, bis ich die Möglichkeit hatte, mich für einen derartigen Gefühlsausbruch zurück zu ziehen, mich im Bad einzuschließen, nach einem Räuspern zu rufen , "ich komme gleich", mein Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, um dann, scheinbar fröhlich, wieder auf der Bildfläche aufzutauchen. Doch dieses Mal überrollte es mich wie eine Welle, die Dich aus dem Stand zu Boden reißt.


Ohne den Kopf zu heben, ohne sie anzusehen, konnte ich die, nun auf mich gerichteten, irritierten Blicke der Jungs spüren.


Sie hatten gerade noch abwechselnd kichernd und streitend, laut diskutierend, und Siegesparolen trällernd, auf dem Boden liegend Schach gespielt. Jetzt verstummten sie. Die plötzliche, beinahe regungslose Stille, die nur von meinem Weinen durchbrochen wurde, schien unerträglich laut zu werden, und die Zeit schien sich, wie ein Kaugummi unendlich in die Länge zu ziehen... Schließlich holte ich tief Luft, sah die beiden an, und sagte so deutlich wie möglich:


„Es tut mir leid.“


Ich wollte nicht, daß sie mich so erleben mussten und sich Sorgen machten. Die Tatsache, daß sie ihre Mutter nun doch so sahen, machte mich noch trauriger, und war, bei dem Versuch mich zu beruhigen, ganz und gar nicht hilfreich. Da stand der Jüngere der beiden, der damals ungefähr sieben Jahre alt war, auf, setzte sich zu mir, streichelte mit der einen, seiner komplett mit Filzstiften bemalten Finger meine Wange, während er die andere auf meinen Rücken legte. Er sah mich an und sagte: „Mami das ist nicht schlimm… schließlich muß jeder Mensch einmal weinen.“

Sein großer Bruder stand auf, setzte sich zu uns, nickte zustimmend, nahm meine Hand, und hielt sie ganz fest.


An diesem Tag habe ich etwas Essentielles von meinen Kindern gelernt.


Ich wollte immer, daß meine Söhne so unbeschwert wie möglich aufwachsen. Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, ihnen das "perfekte Familie - heile Welt - Bullerbü - Rundumsorglospaket" zu bescheren. Doch meistens kommt uns dann doch etwas dazwischen, egal wie prächtig unsere Vorsätze waren. Ich schätze, das ist das Leben, daß nun einmal die Polarität, wie auch immer sie sich zeigt, beinhaltet.


"Auch das glücklichste Leben ist nicht ohne ein gewisses Maß an Dunkelheit denkbar. Glück würde seine Bedeutung verlieren, hätte es nicht seinen Widerpart in der Traurigkeit." C. G. Jung


Ich verstand an diesem Nachmittag auf dem Sofa, daß es nicht darum ging, keine Probleme haben zu dürfen, oder diese, wenn sie uns doch einen Strich durch die Rechnung machen, zu vertuschen, sondern richtig mit ihnen umzugehen.


Kinder spüren wenn etwas nicht stimmt. Man kann ihnen nicht wirklich etwas vormachen, und sie erkennen jeden Fake! Versuchen die Erwachsenen offensichtliche Probleme, wie beispielsweise Alkoholismus tot zu schweigen, und den Dreck unter den Teppich zu kehren, werden Kinder versuchen, sich ihre Fragen selber zu beantworten, und bleiben mit ihren Ängsten und Unsicherheiten alleine.


Sie werden sich, genau wie die großen Co - abhängigen möglichst unauffällig verhalten, was aber nicht bedeutet, daß sie nicht merken, dass etwas nicht in Ordnung ist.


Vielmehr wollen sie uns zum Gefallen, den Anschein machen, als ob sie auf das Schmierentheater reinfallen. Damit wir uns besser fühlen! Sie wollen die Sache nicht noch komplizierter machen, als sie es ohnehin schon ist, und tun alles dafür, ihre kleine Welt in Ordnung zu halten. Das überfordert sie heillos, und eine mehr als toxische Atmosphäre entsteht, in der die Kinder leider Gottes lernen, an ihrer Intuition zu zweifeln. Denn wenn man ihnen das Gegenteil von dem einredet, was sie eigentlich so deutlich spüren, müssen sie denken, daß mit ihnen etwas nicht stimmt, und suchen den Fehler im Zweifel bei sich. Ich halte es für essentiell wichtig, mit Kindern altersgerecht über ihre Erfahrungen mit Alkoholismus zu sprechen und ihnen die Krankheit möglichst sachlich zu erklären, ganz egal, wie lange ihre unschönen Erlebnisse möglicherweise bereits zurück liegen. Andernfalls riskiert man, dass sie falsche Schlüsse ziehen, sich nachhaltig schämen, verantwortlich, oder gar schuldig fühlen.


Wir haben das Drama endgültig hinter uns gelassen. Die Luft zu Hause ist klar, und unser Haus ist wieder ein Ort, an dem man sich uneingeschränkt entspannen, und geborgen fühlen kann.


An den Wochenenden sind meistens alle Sofas voll besetzt, und manchmal hat man Mühe zu erkennen, wer alles in den kuschelnden Knäueln steckt. Wir verbringen sehr viel Zeit mit guten Freunden, sind im Sommer so oft wie möglich am See, versumpfen regelmäßig mit den coolsten Nachbarn der Welt, lachen bis uns die Tränen kommen und uns der Bauch weh tut, sehen uns gemeinsam Filme an, und lieben es alle, mit unseren Münchner Freunden sonntags Essen vom Inder zu holen, bevor sie wieder nach Hause fahren. Wir bestellen jedes Mal viel zu viel, und sitzen dann dementsprechend lange zusammen an meinem großen alten Holztisch. Manchmal plaudern die Teenies bei dieser Gelegenheit aus dem Nähkästchen, es wird diskutiert, gelacht und Quatsch gemacht. Wir streiten uns regelmäßig welche Musik wir im Auto hören und landen, wenn wir uns nicht einigen können, bei Helge Schneider.


Ich sehe den Jungs an, daß es ihnen richtig gut geht, und spüre, wie sie in sich ruhen… jeder auf seine ganz spezielle Art.


Es macht mich unendlich dankbar, wie liebevoll, lustig, ehrlich und toll sie sind, und ich sehe es heute anders mit der Perfektion. Natürlich möchte ich nach wie vor, daß meine Söhne eine schöne Kindheit und Jugend erleben, an die sie immer gerne zurück denken, und die ihnen ein stabiles Fundament für ihr Leben bietet. Aber ich denke nicht mehr, daß die Voraussetzung dafür, ein Leben ohne Probleme ist. Ich sehe es nicht mehr so Schwarz - Weiß, daß aus einem Kind nur ein glücklicher Mensch werden kann, wenn immer alles glatt lief, und sich die wichtigsten Bezugspersonen zwangsläufig in der klassischen Familie finden. Ich halte es vielmehr für das Allerwichtigste ihnen vorzuleben, wie man mit Problemen und Streit umgeht, sich entschuldigen zu können, füreinander da und ehrlich zueinander zu sein, sich aufeinander verlassen zu können, miteinander Spaß zu haben, auf seine innere Stimme zu hören, zusammen zu halten, seine Meinung zu vertreten, sich mindestens einmal am Tag in den Arm zu nehmen, und wirklich keinerlei Beziehungen zu führen, in denen man nicht so behandelt wird, wie man es verdient hat.


Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen.

A. Aurelius



Byebye Co - Abhängigkeit!

Alles Liebe,

Julia




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