Es ist wirklich erstaunlich, wie lange Menschen bereit sind, einem Weg zu folgen, der offensichtlich nicht der Richtige ist, der zusehends beschwerlicher und schmerzvoller wird. Man kann den nahenden Abgrund förmlich sehen und läuft trotzdem immer brav weiter, geradewegs und schnurstracks auf ihn zu. Es ist verrückt, wie schwer es uns häufig fällt, Entscheidungen zu treffen, wenn sie bedeuten, Vertrautes los- und uns auf Neues ein-zulassen.
Ist es viellicht an der Zeit ein neues Ziel in DEIN Navi einzugeben?
Ich spürte sofort, daß etwas nicht stimmte. Als ich ihn sah, wußte ich, daß er bereits soviel getrunken hatte, daß es sehr schwer bis unmöglich werden würde, in irgendeiner Weise auf ihn einzuwirken. Es war 9.00 Uhr morgens.
Ich fragte mich, was ich bloß mit ihm anstellen sollte, mußte mich aber eigentlich um meine Arbeit kümmern. Ausgerechnet an diesem Tag erwarteten wir ortsansässige Dirndl Designerinnen zu einem Verkaufs - Event bei uns im Geschäft. Ich war in solchen Momenten wie ferngesteuert… spürte wie sich mein Magen zuschnürte… hielt oft unbewußt die Luft an… atmete nur noch sehr flach… kämpfte immer öfter mit den Tränen.
Meine Mitarbeiterin und Freundin, die natürlich auch längst wußte was los ist, erschien zum Glück auf der Bildfläche und kümmerte sich alleine um das Geschäft, so daß ich „hinter den Kulissen“ versuchen konnte, meinen damaligen Partner aus dem Verkehr zu ziehen.
Obwohl er Mühe hatte zu stehen, komplett planlos und volltrunken war, sah er überhaupt nicht ein, daß er so nicht arbeiten konnte.
Er redete nur noch wirres Zeug, brachte alles durcheinander und ich war kurz davor die Nerven zu verlieren, auszurasten und ihn anzubrüllen.
Ich war wütend, erschöpft, verzweifelt und ausgebrannt.
In der Zwischenzeit waren alle Damen eingetroffen. Ich konnte sie bis in sein Büro hören. Sie begannen ihre Ware auszupacken, Kleiderstangen von A nach B zu rollen, Accessoires zu arrangieren, Bistro Tische aufzustellen und zwischen ihrem geschäftigen Treiben, dem monotonen Summen der Kaffeemaschine und dem Klappern von Tassen und Absätzen, drangen gut gelaunte Gesprächsfetzen, „ein guten Morgen“ hier, ein „schön Dich zu sehen“ da, leise und laute Wellen fröhlichen Gelächters bis zu unserer tristen Szenerie, in der sich das Chaos seiner Trinkerei unübersehbar ausgebreitet hatte.
Die Diskrepanz, zwischen diesen zwei Welten unter einem Dach hätte für mich nicht größer und auch nicht deprimierender sein können. Meine Gedanken, was ich tun sollte, wurden unterbrochen, als ich hören konnte, daß meine Mitarbeiterin nach mir gefragt wurde.
Ich hatte im Vorfeld zugesagt früh da zu sein und mich am Aufbau zu beteiligen. Jetzt gab es nichts, was mich weniger interessiert und mehr gestresst hätte als das.
Ich ignorierte das Treiben im Laden und beschloß, mich jetzt nicht zu zerreißen und darauf zu verzichten, die verlaufene Wimperntusche von meinem verquollenen Gesicht zu waschen und draußen meine übliche Performance abzuliefern.
Stattdessen versuchte ich mich zusammenzureißen und griff zum Telefon. Ich rief seine Schwester an und flehte sie an, ihren Bruder schnellstmöglich abzuholen.
Sie hatte das Haus zwar voller Gäste, ließ aber dennoch sofort alles stehen und liegen und machte sich auf den Weg. Obwohl sie kurz nach unserem Telefonat an die Glastür seines Büros klopfte, schien sich die Zeit, in der noch so viel aus dem Ruder laufen konnte, bis zu diesem erlösenden Moment, unendlich, unerträglich und bedrückend in die Länge zu ziehen.
Was, wenn er laut werden, in seinem Zustand durch das Geschäft torkeln, verschwinden, oder sich ans Steuer setzen würde, um zu seinem Kunden zu fahren…
Obwohl ich vor Wut, Enttäuschung, Verzweiflung, Erschöpfung und Ohnmacht hätte schreien können, versuchte ich beschwichtigend und vorsichtig auf ihn einzuwirken, um all diese möglichen Horrorszenarien abzuwenden.
Es gab zu dieser Zeit letztendlich keine Situation mehr, in der ich authentisch reagiert habe.
Und je mehr man der Angst folgt und faule Kompromisse macht, umso unsicherer und manipulierbarer wird man. Je mehr man sich selber verliert, umso mehr schämt und isoliert man sich und schafft somit einen perfekten Nährboden für das toxische System.
Du entschuldigst Dich für die Dinge, nur damit endlich Ruhe ist, sprichst anderes nicht aus, weil Du die Konsequenzen fürchtest und lächelst immer öfter, obwohl Du innerlich weinst… nur um den Schein zur waren, oder die Ruhe vor dem nächsten Sturm nicht zu gefährden.
Ich fragte mich immer öfter, ob in seinem Glas auch tatsächlich das war, wonach es aussehen sollte… und fand nach etlichen versteckten leeren Flaschen eines Tages den Mut wieder, mir die für mich richtungsändernde Frage zu stellen:
„War das wirklich das Leben, das ich führen wollte?
Auch an diesem Vormittag gab ich mich verständnisvoll, stark, ruhig und mitfühlend… bis ich seine Schwester sah…
… in diesem Moment brach ich in mir zusammen und die Tränen liefen mir heiß und unaufhaltsam über mein Gesicht. Ich versuchte das Schluchzen zu unterdrücken… aber auch das gelang mir nicht mehr.
… sie hatte Verstärkung mitgebracht und gemeinsam gelang es ihnen schließlich, den zunächst widerspenstigen, kräftigen und volltrunkenen Mann in ihr Auto zu schaffen.
Als ich sie wegfahren hörte und alleine und verheult in dem Chaos saß, daß er angerichtet hatte, mußte ich an ein Zitat von Henry Ford denken:
„If you always do, what you have always done, you will always get, what you have always got!“
Was wollte ich eigentlich erreichen?
Mein Ziel war es wieder einmal zu verhindern, daß man im Geschäft mitbekam, in welch erbärmlichen Zustand er war. Ich lud seine Verantwortung zu mir und wollte alles in meiner Macht stehende tun, um ihn vor sich selber und den Konsequenzen seiner betrunkenen Handlungen zu schützen. Ich setzte alles daran, daß er sich nicht vor den Kunden blamierte, sich ans Steuer setzte, oder weiter trank. Ich wollte ihn an einen sicheren Ort schaffen, an dem er, ohne leichten Zugriff zur nächsten Flasche, hoffentlich einschlafen und wieder halbwegs berechenbar zu sich kommen würde, bevor alles, wie schon so oft, vollends eskalieren würde und mit einem Notarzt- oder Polizeieinsatz enden konnte.
In dem Moment, wo ich diese Ziele, enorm unter Strom stehend erreicht hatte, stellte sich, schon alleine ob der enormen Anspannung, unter der ich aufgrund der unberechenbaren Situation stand, eine grenzenlose Erleichterung ein, die in bleierner Erschöpfung mündend, absolut keinen Raum für neue Blickwinkel zu ließ.
Der Akku war leer und die Herausforderung des Tages gemeistert.
Game over.
Ich hatte mein Ziel erreicht. Puh… Geschafft… was für ein Glück…
Nur was war das für eigentlich für ein Glück… und was für ein Ziel?
Wollte ich tatsächlich eine Beziehung führen, in der ich jeden Tag auf einer tickenden Zeitbombe saß, für deren Entschärfung ich im Notfall regelmäßig alles stehen und liegen lassen mußte? Wollte ich mich, wie ein lifeguard am Strand, für die Emotionen und Handlungen meines Partners verantwortlich fühlen, und alles und jeden, inklusive mich selber, in Konsequenz grandios vernachlässigen. War mein Ziel zu springen wenn er oder sein Zustand es verlangten?
Wollte ich mich damit zufrieden geben, auf ihn und seine Sucht zu reagieren und mich schuldig und verantwortlich fühlen, während er sich davor drückte Verantwortung zu übernehmen und stattdessen anderen Menschen, den Umständen oder MIR die „Schuld" für seinen Zustand gab?
War DAS wirklich mein Lebens - Ziel? Wollte ich mich weiterhin zufrieden geben und zulassen, daß ich zusätzlich noch mit dem Raubbau an mir bezahlte? Wofür?
War es tatsächlich erstrebenswert, unermüdlich in Selbstsabotage um einen anderen Menschen zu kreisen? War DAS Liebe, oder hört Liebe dort auf, wo chronisches Unglück, Manipulation, Respektlosigkeit, Unaufrichtigkeit, Unzuverlässigkeit und Abhängigkeit beginnen?
War das wirklich die Beziehung, die ich weiterhin führen wollte?
Waren Vertrauen, Augenhöhe, Ehrlichkeit, Respekt und Zuverlässigkeit tatsächlich für mich verhandelbar?
War mein Ziel immer wieder die Konsequenzen für sein Trinken zu tragen, oder zumindest mit-zutragen?
Anstatt loszulassen, neigen wir dazu, im entscheidenen Moment zu glorifizieren, wer oder was uns schon lange nicht mehr gut tut, anstatt uns auf das zu fokussieren, was wir gewinnen können.
Nähe und Abhängigkeit werden dabei leider häufig verwechselt. Was beide Zustände verbindet, ist ein Gefühl der Vertrautheit, auch wenn dem eine einglückliche Realität zu Grunde liegt.
Wir kennen uns in der unglücklichen Beziehung, in dem kräftezehrenden Alltag aus, wissen ganz genau, was uns bestimmte Menschen oder Situationen abverlangen und reagieren und funktionieren irgendwann fast mechanisch. Und ganz gleich, wie tief wir schon in dieser emotionalen Sackgasse stecken, wie leer und ausgebrannt wir uns fühlen, ängstigt uns das Unbekannte häufig noch viel mehr, als unser reales Unglück.
Die Hoffnung, daß eines Tages alles wunderschön sein wird, klebt uns wie Kitt an unser reales Unglück, das Lichtjahre von unserer Wunschvorstellung entfernt ist.
Und auch wenn uns das Wasser bereits bis zum Hals steht, klammern wir uns unbeirrt an den Mast des sinkenden Schiffes, anstatt endlich loszulassen und zu schwimmen…
… zu einem neuen, einem wirklich attraktiven und von uns selber initiierbaren Ziel.
Nur noch auf den Zustand eines anderen zu reagieren, zuzulassen, daß er/sie über Nähe und Distanz herrscht und von demjenigen, der uns verletzt zu erhoffen, daß er/sie uns auch wieder "verarztet", oder seinen Worten endlich nachhaltige Taten folgen läßt, ist alles andere als selbstwirksam. Die Person, die wir unseren Selbstwert demontieren lassen, bekommt von uns auch noch die Macht, ihn auch wieder herzustellen: „Du weißt, daß ich das nicht so gemeint habe… ich liebe und brauche Dich doch!“
Hier haben wir es mit Abhängigkeit zu tun, die auf einem Fundament aus Angst, Manipulation, Unsicherheit und Ohnmacht steht.
Echte, gesunde Nähe steht hingegen auf einem Fundament aus Augenhöhe, Vertrauen, emotionaler Freiheit und Liebe.
Und da waren sie meine neuen Ziele: Augenhöhe, Vertrauen, emotionale Freiheit und Liebe.
Byebye Co - Abhängigkeit!
Alles Liebe,
Julia
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